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Strahlenangst

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Als Strahlenangst (auch Strahlenphobie oder Radiophobie genannt) bezeichnet man die Angst vor den negativen Folgen radioaktiver Strahlung. Der Begriff wurde erstmals 1951 in einem medizinischen Fachjournal erwähnt. Der Autor Jack de Ment beschuldigt darin Lehrer, Eltern und Sozialarbeiter Kindern Angst vor Kernwaffen einzujagen, da dies auf alle nuklearen Anwendungen abfärben könnte. Es bezeichnete dies als eine Art psychologische Bestrafung an Kindern.[1] Durch die weltweite Hysterie im Zuge des Tschernobyl-Unfalls inspiriert, schrieb der Wissenschaftshistoriker Spencer R. Weart von der UC Berkeley das Buch Nuclear Fear: A History of Images (1988). Hier wird erstmals die Kulturgeschichte der Radiophobie untersucht. Weart recherchierte in den Archiven von Zeitungen, Science-Fiction-Magazinen, populärwissenschaftlichen Magazinen, Regierungspropaganda und anderen Quellen, um die Geschichte der Bilder der Kernphysik zu erfassen: Die Ängste und Hoffnungen, die Weiße Stadt der Zukunft, das Elixier des Lebens und der Stein der Weisen, aber auch Ängste vor der Apokalypse, vor Monstern, Strahlen und gefährlichen Wissenschaftlern und der atomaren Auslöschung.[2] Mark Morrisson von der Penn State University ergänzte den Themenkomplex mit seinem Buch Modern Alchemy: Occultism and the Emergence of Atomic Theory (2007) um die Art, wie das Wissen gewonnen wurde, und wie es in einem breiten kulturellen und spirituellen Kontext aufgenommen wurde, zwischen Wissenschaft und Okkultismus.[3] Rolf Michel von der Leibniz Universität Hannover, und Mitglied der Strahlenschutzkommission (SSK), ergänzte die Theorie um ein paar deutsche Besonderheiten, und die Entwicklung seit 1986.

Geschichte

Der Stein der Weisen

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts glaubten viele, dass die Wissenschaft die Menschheit nicht nur in eine Zukunft des Überflusses materieller Güter, sondern auch zu Brüderlichkeit und Weisheit führen würde. Die größten Enthusiasten waren die Wissenschaftler selbst. So erklärte der französische Chemiker Marcellin Berthelot, dass im Jahr 2000 die Erde ein Garten sein werde, in dem eine freundlichere und glücklichere Menschheit im Überfluss eines Goldenen Zeitalters leben würde. Er erklärte, dass die Entdeckungen von Wissenschaftlern dies möglich machen würden, indem sie zum Beispiel unbegrenzte Energiequellen eröffnen würden. Solche Vorstellungen, und die Inszenierung derselben auf der World’s Columbian Exposition 1893 in Chicago unterstützten utopische Visionen, die für Generationen wirksam sein sollten.[2] Weltuntergangsfiktion war in der damaligen Literatur auch zu finden, z.B. von Jules Verne, spielten gesellschaftlich aber keine Rolle.[4]

Mit der Entdeckung der Kernenergie und Radioaktivität wurden große Hoffnungen verbunden: Wilhelm Conrad Röntgen entdeckte am 1895 die nach ihm benannten Strahlen und erhielt 1901 den ersten Nobelpreis für Physik, ein Jahr später gelang Henry Becquerel die Entdeckung der Radioaktivität. Die erste Krebstherapie mit Röntgenstrahlung führte Thor Stenbeck und Tage Sjörgen schon 1899 durch: Sie behandelten ein Basalzellkarzinom der Nase einer 49 Jahre alten Frau durch 100 Behandlungen im Verlaufe von 9 Monaten. Die Patientin überlebte bei guter Gesundheit 30 Jahre.[5] Pierre und Marie Curie entdeckten 1898 die Elemente Polonium und Radium. 1903 erhielten die Curies den Nobelpreis für Physik zusammen mit Henri Becquerel für ihre Arbeiten zu den von H. Becquerel entdeckten Strahlungsphänomenen, sowie für die Entdeckung der Radioaktivität des Thoriums, und 1911 den Nobelpreis für Chemie für die mit der Entdeckung des Poloniums und Radiums verbundenen Fortschritte der Chemie.[4][3]

Rutherford als König: Dunkle Wolken, Blitz und Sonne. Mosaik von 1952

Bereits 1901 entdeckten Frederick Soddy und Earnest Rutherford, dass das Element X (234Th) aus dem Zerfall von 238U entsteht. Die Erkenntnis, dass Radioaktivität eine fundamentale Umwandlung von Materie darstellt führte zur Aussage Sobbys: „Rutherford, this is transmutation!“ woraufhin dieser antwortete: „For Mike's sake, Soddy, don't call it transmutation. They'll have our heads off as alchemists“.[2] Bei dem Opus Magnum der Alchemie, d.h. der Transmutation eines Stoffes in Gold oder die Schaffung des Steins der Weisen, ging es nicht nur um die praktische Umwandlung von Elementen; es gab auch eine tiefenpsychologische Dimension. Die verschiedenen alchemistischen Vorgänge stehen für die innerpsychische Entwicklung des Menschen. Denn die „Transmutation der Psyche“ wie sie die antiken Mysterienkulte lehrten, durch Leiden, Tod und gewandelte Auferstehung des Adepten zu einer neuen, göttlichen Existenz, wurde in den alchemistischen Werkstätten seit der Antike auf die Materie projiziert. Sie führte zur Transmutation der Materie, wenn die mineralischen Stoffe durch Zerstückelung, Verbrennung und Behandlung all die Wandlungsqualen erleiden wie der zur Erlösung und Wandlung bestimmte Mensch.[4][6]

Im Jahr 1903 beschrieb Gustave Le Bon in den Sonntagsbeilagen von Zeitungen in verschiedenen Ländern die Vision eines radioaktiven Geräts, das auf Knopfdruck die ganze Erde in die Luft jagen könnte. Rutherford erklärte die mögliche Gefahr einem anderen Physiker, der dann in einem Magazin schrieb: „Es erscheint denkbar, dass eines Tages Mittel gefunden werden, radioaktive Umwandlungen von Elementen zu erzeugen, die normaler Weise nicht radioaktiv sind. Professor Rutherford hat gegenüber dem Autor scherzhaft eine beunruhigende Idee erwähnt: könnte ein geeigneter Zünder entdeckt werden, könnte eine Welle atomare Zerstörung explosionsartig sich durch alle Materie ausbreiten und die ganze Masse des Globus in Helium oder ähnliche Gase verwandeln.“ Rutherford's witzelte, dass „irgendein Narr in einem Labor unbeabsichtigt das ganze Universum in die Luft jagen könnte.“ Im Jahr 1913 publizierte H. G. Wells die erste Geschichte über Atomwaffen.[3] The World Set Free war Soddy gewidmet und war inspiriert worden durch die Berichte über Radium. Er beschrieb einen Weltkrieg in den 1950ern mit Piloten die Bomben abwarfen, von denen jede eine ganze Stadt auslöschten konnte. Kolossale Feuersäulen wüteten, während Wolken glühenden radioaktiven Dampfs mit dem Wind davon getragen wurden und alle, die sie ereilten, töteten und verbrannten. Die beinahe Auslöschung der Zivilisation lehrte die Überlebenden eine Lektion und sie schufen eine Weltregierung, die eine glanzvolle neue Gesellschaft erschuf. Am Ende der Geschichte reisten die Bürger in atomgetriebenen Luftfahrzeugen, bauten mit Atomkraft betriebene Gartenstädte in Wüsten und arktischen Öden und erfreuten sich der Freiheit und freier Liebe.[2] Gustave Le Bon schrieb 1909 in L'Evolution de la Matiere, dass wenn die Menschen lernten die Energie der Radioaktivität zu nutzen, würden Arme und Reiche gleich sein, und es würde keine sozialen Probleme mehr geben.[4][7]

Kosmetikprodukte mit Radium[Ah. 1]

Ab 1840 hatten Esoterik und Okkultismus in Westeuropa und Nordamerika einen Aufschwung. Die okkulten Traditionen und religiösen Glaubensinhalte der Alchemie stießen bereits ab 1880 auf neues Interesse in der Gesellschaft, sodass vermehrt Bücher und Zeitschriften zu diesem Thema erschienen. Bis zur Entdeckung der Radioaktivität wurde die Alchemie rein spirituell aufgefasst, die Transmutationslehre wurde als Selbst-Transformation interpretiert. Die neu entdeckte Radioaktivität wurde nun zum Stein der Weisen der Alchemisten. Chemiker verkündeten, sie könnten tatsächlich Gold herstellen.[3] Radium wurde als Allheilmittel gepriesen, und in Wasser gelöst in Flaschen verkauft. Es wurden Zimmerheizungen mit Radium und interplanetare Weltraumflüge propagiert, und unbegrenzte Energie durch Atomkraftwerke, die den radioaktiven Zerfall ausnutzen sollten. Brauereien boten Radiumbiere an, Bäckereien Radiumbrot. Radium wurde als Lutschpastille, Hautchreme und Nährsalz verkauft. Emanatoren wurden verkauft, um Trinkwasser radioaktiv anzureichern. Radioaktive Zahncreme wurde für „strahlend“ weiße Zähne verkauft. Auch Thorium wurde als Radionuklid für ähnliche oder gleiche Zwecke verwendet. Radioaktivität wurde als Schönheitsmittel und Aphrodisiakum beworben, und Radium für radioaktive Kompressen verwendet.[4] Denn konnte Radium nicht der Stein der Weisen sein, fähig Transmutationen auszulösen, oder das Elixier des Lebens, das verjüngt und das Leben um Jahrhunderte verlängert? Besaß es doch verborgene Kräfte? Bücher behandelten das Sujet, und selbst Wissenschaftler wie Soddy (The Interpretation of Radium, 1909) ließen sich von Okkultismus und Fantasie anstecken.[3]

Die reale Chemie hatte die Alchemie übernommen, wodurch sich Debatten von Kernphysikern und Okkultisten entwickelten. Da es damals keine zufriedenstellende wissenschaftliche Antwort auf das Phänomen Radioaktivität gab, neigten Menschen auch zu esoterischen Ansichten. Eduard Färber versuchte mit Die geschichtliche Entwicklung der Chemie (1921), eine Verbindung zwischen der Wissenschaft der Chemie und philosophisch-religiösen Aspekten der Alchemie zu finden.[3] Die Radium-Industrie versorgte aber nicht nur die Strahlengläubigen, sondern auch die Mediziner, welche auf Basis von bewiesenen Tatsachen von Ursache und Wirkung Patienten behandelten. Dabei wurden auch die ersten Strahlenschäden sichtbar, die vorher nur bei Kernphysikern auftraten: Strahleninduzierter Krebs als Konsequenz der Anwendung eines Radium-Kissens, Röntgenkarzinome und andere tödliche Erkrankungen. Bekannt sind die Radium-Zifferblatt-Malerinnen und Ärzte, welchen durch das Ehrenmal der Radiologie in Hamburg gedacht wird.[4] Die Chemiker gaben Anfang des Jahrhunderts den Aufbau von Atomkernen an das damals kaum ausgeprägte Themengebiet Kernphysik ab, wodurch dieses mit der Transmutationsideologie belastet wurde.[3]

Das Thema entgleitet

In den 1930ern assoziierten die meisten Menschen Radioaktivität vage mit unheimlichen Strahlen, die scheußlichen Tod oder wunderbares neues Leben brachten, mit verrückten Wissenschaftlern und ihren vieldeutigen Monstern, mit kosmischen Geheimnissen von Leben und Tod, mit einem zukünftigen goldenen Zeitalter, das vielleicht nur durch eine Apokalypse erreicht werden konnte, und mit Waffen, stark genug, die Welt bis auf wenige Überlebende zu zerstören. Kernenergie war zu einer symbolischen Verkörperung einer magischen Transmutation der Gesellschaft und des Individuums geworden.[2]

Admiral Blandy beim Anschnitt, zur Feier von Operation Crossroads

Mit der Entdeckung der kontrollierten Kernspaltung durch Neutronen, und der Anwendung in Fermi‘s Reaktor 1942, machte die Kernenergienutzung einen großen Sprung nach vorn. Mit der Zündung von Trinity am 16. Juli 1945, und dem Abwurf von Little Boy und Fat Man über Hiroshima und Nagasaki wurden die apokalyptischen Prophezeiungen wahr. Obwohl der Krieg 1945 zu Ende war, gingen die Bilder weiter: Kernwaffe nach Kernwaffe wurde in einer endlos scheinenden Serie von Tests vor den Augen der Weltöffentlichkeit gezündet. Das Wettrüsten zwischen der USA und UdSSR führte zu immer größeren Bomben. Die Zündung der ersten thermonuklearen Bombe (Wasserstoffbombe) Castle Bravo wurde für die Öffentlichkeit die Wahrnehmung des Unbegreifbaren: Die New York Post bezeichnete sie als „Hell Bomb“. Zukunftsängste von früherer Zeiten wurden die Gegenwartsängste der 1950er, als Wasserstoffbomben und Interkontinentalraketen aufkamen. Die phantastischen Prophezeiungen von Jules Verne und H. G. Wells schienen Realität zu werden. Der Fallout aus den Kernwaffentests, z.B. von Operation Crossroads auf das Fischerboot Fukuryū Maru, überzeugte die Menschen, dass Bomben und Radioaktivität globale Verseuchung und Tod bedeuteten.[4][2]

Godzilla!

Während die Science Fiction der Zeit von der Zähmung eines neuen Feuers sprach, oder vom Geist aus der Flasche, versuchte die Politik durch Atoms for Peace die Massen zu beruhigen und nach neuen Möglichkeiten für die Kernenergetik zu suchen, zum Beispiel durch zivile Nuklearexplosionen. Von Seiten der Wissenschaftler wurde mit dem Russell-Einstein-Manifest versucht, dass Wettrüsten zu bremsen. Damalige Comics zur Vermittlung von Grundlagenwissen in der Kerntechnik stellten auch andere Anwendungsmöglichkeiten der Technik dar. Der Comic „Adventures Inside the Atom“ von General Electric ist hierbei archetypisch für die alchemistische Transmutationslehre. Medien und Firmen propagierten Atomautos und Atomzüge; die technisch sinnvolle Lebensmittelbestrahlung wurde mit „Atomic Energized Seeds“ beworben.[4][2]

Die US-Regierung startete ab 1951 die „Duck and Cover“ Zivilverteidigungskampage. Passend dazu handelten Literatur und Kinofilme der 60er Jahre zumeist von den letzten Tagen der Menschen nach einer atomaren Apokalypse. Im Film Them! (1954) fallen verstrahlte Riesenameisen über die Menschheit her, in The Gamma People (1956) gibt es einen verrückten Wissenschaftler, der Gamma-Strahlung dazu benutzt, die Jugend des Landes in Genies und Untermenschen zu verwandeln und zu Werkzeugen des ebenfalls verrückten Diktators zu machen. In The Atomic Man (1956) versetzt ein nukleares Disaster einen Mann in die Zukunft. 1959 folgte The Atomic Submarine, indem ein atomgetriebenes U-Boot eine Alien-Invasion bekämpft. 1962 wird Los Angeles im Film Panik im Jahre Null von einer Atomrakete getroffen.[4][2]

Schon damals zeigte sich, dass die Bemühungen der Strahlenschützer um eine sachliche Bewertung des Strahlenrisikos zwischen Atombombe und Mutantenmonstern aussichtslos war. In den Comics wimmelte es von Superhelden und –schurken, die eines gemeinsam hatten: Sie waren wie Spider-Man, Hulk und Godzilla alle Verstrahlungsopfer. Hier werden die archetypischen Bilder der Transmutation aus dem Unterbewussten in die Realität transportiert: Die gewandelte Auferstehung des Adepten zu einer neuen, göttlichen Existenz.[4] Diese Symbolik diente allen Spielern: Senator McMahon, wenn er forderte, zahllose Wasserstoffbomben zu bauen, Bertrand Russell, wenn er forderte, alle Kernwaffen zu zerstören, Glenn Seaborg, wenn er versprach, dass nukleare Städte ein Utopia sauberer Technologie bringen würden, Ernest Sternglass, wenn er warnte, dass Kernreaktoren den gesamten Planeten verpesten würden. Alle Parteien trugen dazu bei, ein Thema aufzubauen: den Mythos der Macht der Transmutation jenseits der menschlichen Sphäre. Der Mythos hatte neue Macht erhalten, weil Nukleartechnik zielgerichtet in den Bereich des Möglichen gebracht hatte, was einst nur im Bereich der Mythen existierte.[2]

Spaltung der Gesellschaft

In den frühen 1960ern brach die Symmetrie: für die meisten Menschen konnten die nuklearen Hoffnungen nicht länger die nuklearen Ängste ausbalancieren. Eine ganze Technologie und tatsächlich ein ganzer Teil der physikalischen Realität, die Kernenergie selbst, die alle Menschen mit den Atomen in ihren Körpern tragen, wurde nun mit unheilbarem Misstrauen betrachtet. Gleichzeitig mit dieser Einstellung kamen neue Stereotype wie Militäroffiziere und andere Offizielle, die nun ebenfalls als gefährliche Männer, nicht unähnlich verrückten Wissenschaftlern angesehen wurden. In den 70er Jahren weckte die 68er-Bewegung Zweifel an der Autorität der Wissenschaft und der Wirtschaft, der Behörden und staatlicher Funktionsträger, der Parteien und Regierenden. Das Misstrauen gegen die nuklearen Fachleute brach verstärkt hervor. Die zivile Nutzung der Kernenergie hatte zwar wirkliche Probleme, aber diese wären nicht in der Lage gewesen, so eine wütende Opposition zu bewirken, wäre da nicht ein zunehmendes Misstrauen gegen die gesamte moderne Zivilisation gewesen, einschließlich ihrer Herrschaftsstrukturen und sogar gegen ihr Bekenntnis zu Technologie und Rationalität. Die Frankfurter Schule und die kritische Theorie machten daraus ein politisches Programm. Aus der Kritik des Kapitalismus, wie sie Marx leistete, wurde eine Kritik der Naturbeherrschung und ihrer philosophischen Vordenker. Ab diesem Zeitpunkt ging es nicht mehr um die Frage für oder gegen die Kernenergie zu sein: die Antiatombewegung forderte die gesellschaftliche Revolution.[2][4]

Wolfgang Harich, 1947

Bewusstseinsbildend dafür wirkte sich Wolfgang Harichs Buch Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der »Club of Rome«. Sechs Interviews mit Freimut Duve und Briefe an ihn. (1975) aus. Der Marxist Harich propagierte darin als erster eine Öko-Diktatur, welche den Menschen „mittels Umerziehung und aufklärender Überzeugung, doch, falls nötig, auch durch rigorose Unterdrückungsmaßnahmen, etwa durch Stillegung ganzer Produktionszweige, begleitet von gesetzlich verfügten Massen-Entziehungskuren“ an ein Programm der Bedürfnisbefriedigung anpasst, um die Wirtschaft in ökologisch verantwortbaren Grenzen zu halten.[8] Gleiches gilt auch für Robert Jungks Buch Der Atomstaat (1977). Kernpunkt der Warnung vor dem Atomstaat war die Einschränkung der Bürgerrechte als notwendige Folge staatlicher Überwachungsmaßnahmen zur Verhinderung von Atomterrorismus. Der Marxist Jungk sah eine Konditionierung der Menschen in der Atomindustrie, deren Unzulänglichkeiten die Sicherheit der Atomanlagen gefährden könnten, und behauptete Repressionen gegen die Kritiker inner- und außerhalb der Atomindustrie. Neben dem Geschwafel um die Grenzen industriellen Wachstums, die er bereits in Jahrtausendmensch (1973) ausbreitete, stellte er als Gegenkonzept Dezentralisierung und eine Abschaffung der Großindustrie vor. Im Buch Der Atomstaat finden sich fast alle Bestandteile dieser Kritik wieder. Aber sie werden hier auf das Sujet, die Kerntechnik, projiziert. So stellt er im Ausblick fest, „daß die Atomfrage zum auslösenden Moment einer Auseinandersetzung geworden ist, die über ihren unmittelbaren Anlaß weit hinausweist ... Dahinter steht die noch umfassendere Frage, ob die bisherige ... Richtung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts für den Menschen noch länger taugen kann. [...] Die Entscheidung für die Kernenergie war die logische Folge einer Technologiepolitik, die das Wachstum der Produktion über alle anderen menschlichen Interessen stellte.“[9]

Der Kampf gegen die Kernenergie, bzw. den „Atomstaat“ (heute wahlweise auch als „Atomlobby“ oder „Atommafia“ bezeichnet), wurde nun stellvertretend für den Kampf gegen die moderne, kapitalistische Industriegesellschaft.

Wissensgesellschaft und Mystiker

Mit dem Marsch durch die Institutionen begann deren Unterwanderung durch die Kulturmarxisten. Nach Ansicht von Dr. Hans Mathias Kepplinger, Professor für Empirische Kommunikationsforschung am Institut für Publizistik der Universität Mainz, waren ab 1973 alle deutschen Massenmedien gegen Kernenergie.[4] Diese Einstellung breitete sich auch auf andere Länder aus: 1978 arrangierte ein französischer Soziologe ein Treffen zwischen einer Gruppe militanter Kernkraftgegner und Andre Gauvenet. Gauvenet war ein älterer Herr, ein ausgebildeter Ingenieur, der seinen Weg in der französischen CEA gemacht hatte und der Verantwortliche für nukleare Sicherheit war. Ruhig und kultiviert, hoch zivilisiert, hatte Gauvenet auf jede technische Kritik, die von den Kernkraftgegnern vorgebracht wurde, eine Erwiderung. Die Militanten waren schnell von der Argumentation ermüdet. Besonders irritiert war der Führer der lokalen Friends of the Earth (BUND), ein junger Mann, der seine Familie verlassen und sein Studium aufgegeben hatte, um in einer Kommune und dem anti‐nuklearen Widerstand zu leben. Er erhob seine Stimme, um darauf zu bestehen, dass das wirkliche Problem nicht in technischen Sicherheitsspielen bestand: „Es ist politisch!“.[2] Die Mentalität „Ihr könnt sagen was ihr wollt, wir sind dagegen!“ wurde zum Normalfall.[4]

Die Reaktorunfälle von Three Mile Island (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima-Daiichi (2011) wurden nur deshalb so hysterisch behandelt, weil es politisch war und weil der psychologische und soziologische Grund vorbereitet war. Der Unfall von Three Mile Island hatte keinerlei gesundheitliche Folgen, wurde aber durch den zeitgleich laufenden Film „Das China Syndrom“ gepusht. Der Begriff „China Syndrom“ wurde in der englischen Sprache zum Begriff, in Deutschland wurde dafür der „Super-GAU“ erfunden. Unzählige Verstrahlungs-Apokalypse-Filme wie Threads (1984) später, erfüllten sich die Prophezeiungen der Kassandren: Der Reaktorunfall von Tschernobyl. Während Deutschland in ein ökoreligiöses Delirium verfiel, wurde außerhalb der Bundesrepublik sachlicher berichtet. Trotzdem kam es nun zur Schaffung einer Parallelwelt: Die IAEA, UNSCEAR, WHO, und andere stellten weiterhin den wissenschaftlichen Mainstream, auf Basis objektiver Naturgesetze. Für die Gesellschafts-, Atom- und Sonstwas-Kritiker galt die Devise: Weil sein muss, was sein soll, entstand nun durch die Instrumentalisierung der Opferrechnungen ein Wettbewerb um die meisten Toten.[4]

L. A. Ilyin und O. A. Pavlovsky beschrieben 1987 zum ersten Mal die Tatsache, dass die Opfer des Tschernobyl-Unfalles Angst um ihre und die Gesundheit ihrer Kinder hätten, und dadurch in ihrem Alltag durch Stress und Anspannung beeinträchtig sind. Ilyin und Pavlovsky führten dies auf Radiophobie zurück und befürchteten, dass diese in kontaminierten Gebieten außerhalb der 30-km-Zone eine größere Gesundheitsgefahr als die Strahlung darstellen könnte.[10] Tatsächlich konnte später festgestellt werden, dass die psychologischen Konsequenzen des Unfalls für die umgesiedelten Betroffenen groß waren: Die Lebenserwartung fiel von 65 auf 58 Jahre. Nicht wegen Krebs, sondern Depressionen, Alkoholismus und Suiziden.[11]

Da aus ideologischen Gründen Kerntechnik und Radioaktivität immer Schuld sein müssen, kam es zu einer Öko-Atomwissenschaft, von Prof. Dr. Rolf Michel als „partielle Wahrnehmung“ bezeichnet. Gleichzeitig musste eine Helfer- und Spendenindustrie am Laufen gehalten werden, welche natürlich ständig neuer Opfer bedarf. Es gibt also auch handfeste ökonomische Gründe, überall Opfer zu sehen. Da die Strahlendosen bei den meisten Menschen aber zu klein sind, um irgendwelche gesundheitlichen Auswirkungen zu haben, müssen also auch kleine Dosen gefährlich sein. Und wenn keine kleinen Dosen da sind, muss man trotzdem die Gefahr finden: Leukämie in der Elbmarsch, Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken, oder was mit Asse. Die Politik mit der Angst wurde so etabliert. Mit dem Reaktorunfall in Fukushima 2011 kam die große Stunde der grünen Weltuntergangspropheten und Betroffenheitsapostel, und der Misinformation durch die Medien. Denn wenn man „Niedrigstrahlung“ für alles verantwortlich machen kann, wie katastrophal muss dann erst Fukushima sein?[4] Der zwanghafte Versuch, dem Reaktorunfall nachträglich die Tsunamiopfer anzudichten kann wieder als Reaktion gedeutet werden, das scheinbare Sein dem atom-apokalyptischen Bewusstsein anzupassen.

Krankheit

Psychologische Ursache

Nach der Theorie des Wissenschaftshistorikers Spencer R. Weart bedienen die archetypischen Symbole der nuklearen Legenden universelle Ängste und Hoffnungen, die nach uralter Tradition die Stufen der Transmutationssymbolik sind: verbotene Geheimnisse, Bestrafung durch Verlassen werden, Betrügerei und Schikane durch Herrschende, eine daraus resultierende alles vernichtende Wut, Drang zu Mord und Selbstmord und die damit verbundene Schuld, Kampf durch das Chaos, heroischer Triumph über das Böse, übernatürliches Überleben und Regeneration des Ich, Wiedergeburt der Welt und Eintritt in eine freudvolle Gemeinschaft. Die „Transmutation der Psyche“ wie sie die antiken Mysterienkulte lehrten, durch Leiden, Tod und gewandelte Auferstehung des Adepten zu einer neuen, höheren Existenz, wurde so auf die Kernenergetik projiziert.[6] Rutherford begann damit, indem er die nukleare Transmutation auf die Alchemie übertrug, und 1903 zusammen mit Gustave Le Bon die Atom-Apokalypse propagierte, ohne dass die Kernspaltung entdeckt war.[2][4] In den 1920er Jahren wurden Kernphysiker und Nuklearchemiker in der Presse regelmäßig als moderne Alchemisten bezeichnet.[3] Das Mem (Bewusstseinsinhalt) hatte sich verselbstständigt. Obwohl dieser Erklärungsansatz für Strahlenangst nicht von allen Wissenschaftlern akzeptiert wird, besitzt er eine Reihe von Vorzügen. Die gesellschaftlichen Hoffnungen und Ängste, die mit der Kernenergie verbunden waren und sind, können so erklärt werden:

  • Warum die Kernenergie nie als normale Technik angesehen wurde, sondern stets mit Erlösung und Apokalypse in Verbindung gebracht wurde, auch als es weder Kernwaffen noch -kraftwerke, noch eine breite Anwendung der Nukleartechnik gab.
  • Warum die Lösung aller sozialen Probleme für eine bessere Welt auf die Kernenergie projiziert wurde und wird, z.B. durch die Erschaffung von Gold oder Wunderatomkraftwerken die Land und Leute zu einer neuen, höheren Existenz führen sollen.[Ah. 2]
  • Warum radioaktive Substanzen wie Radium oder Thorium früher allen möglichen Dingen beigemischt wurden, ohne dass ein wissenschaftlicher Beweis für einen Nutzen aufgezeigt wurde, und die Leute trotzdem diese Produkte kauften.
  • Warum religiöse Elemente auf die Kernenergie übertragen werden, wie bei der „Hell Bomb“ (New York Post, 1954), oder warum die Deutsche Presse von der „Strahlenhölle Fukushima“ und „radioaktiver Verseuchung“ spricht. Seuchen waren im Mittelalter die größte denkbare Katastrophe, die Schuld wurde bei Gott und den Menschen gesucht.
  • Warum Übermenschen wie Spider-Man, Hulk oder die Mutanten von X-Men (Children of the Atom) alle Strahlenopfer sind, und ihre besonderen Fähigkeiten nicht durch den Biss einer Giftschlange aus dem hinteren Amazonasdelta bekamen.
  • Warum mystische Geschichten von der Zähmung des Feuers, oder vom Geist aus der Flasche auf die Kerntechnik übertragen wurden.
  • Warum alle Spieler, egal ob für oder gegen Kernwaffen /-technik, den Mythos der Macht jenseits der menschlichen Sphäre betonen.
  • Warum die Feindschaft zur Kernenergie hauptsächlich aus dem Rettet-die-Umwelt-vor-Profitgier-Lager der ökologischen Antikapitalisten kommt. Hätte die Ablehnung einen objektiven, rationalen Grund, wäre sie unabhängig von der politischen Weltanschauung gleichermaßen ausgeprägt.
  • Warum der Kampf gegen die Kernenergie in Deutschland stellvertretend für den Kampf gegen die moderne Industriegesellschaft steht, und in anderen Ländern kein „Atomstaat“, keine „Atomkapitalisten“ und keine „Atommafia“ existiert.

Die Theorie von Weart kann auch erklären, warum die Transmutationssymbolik im grünen Lager besonders ausgeprägt ist. So können auch „Energiewende“ oder „Große Transformation“ durch Leiden, Tod und Chaos (Erstickung durch Waldsterben, Atomtod, CO2-Klimahölle, Zusammenbruch der Welt durch Peak-Irgendwas, stiller Sommer durch DDT, Tumore durch Feinstaub) und gewandelte Auferstehung zu einer neuen, höheren Existenz (energie- und rohstoffgewendetes androgynes, multikulturelles Nachhaltigkeitsparadies mit Eine-Welt-Regierung) interpretiert werden. Die mystische Transmutationssymbolik Leiden, Tod und gewandelte Auferstehung (symbolisiert durch die Sonne, also das Leben), religiöse Elemente und der Wunsch nach Überwindung des kapitalistischen Systems können bei Anti-Atom-Demos beobachtet werden.

Folgen und Therapie

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Informieren hilft nicht nur Strahlenopfern, die Folgen zu bewältigen

Die Folge der Strahlenangst ist eine Angstneurose. Eine Neurose ist eine psychische Verhaltensstörung längerer Dauer, die durch einen inneren, unbewussten Konflikt verursacht wird. Die auslösenden traumatisierenden Faktoren sind Stressoren, z.B. Reaktorunfälle. Die Tendenz zur Verdrängung von Bedürfnissen, z.B. Elektroenergie, nimmt dabei überhand. Nach verhaltenstheoretischen Konzepten wird eine Neurose durch erlernte Fehlanpassung hervorgerufen. Dies ist das Ergebnis der Geschichte von Radioaktivität und Strahlung in Deutschland.[4]

Fukushima hat gezeigt, dass Angstneurosen in unserer Gesellschaft zum Kulturgut geworden sind. Als subjektiv erleichternd wirkt sich die weite Verbreitung eines bestimmten Typs von Neurose in der jeweils betroffenen Kultur aus, der dadurch zur sozialen Norm wird. Allerdings war schon Sigmund Freud äußerst skeptisch, dass solche „Normalität“ vielfach mit „Gesundheit“ gleichgesetzt wurde. Der Bevölkerung die Strahlenangst nehmen scheinen manche für kein gutes politisches Geschäft zu halten, kann man sie doch instrumentalisieren. Die Folge ist, dass die Betroffenen zu falschen Schlussfolgerungen kommen, ihre Kompetenz überschätzen und Fehler machen (Dunning-Kruger-Effekt).[4] Dieses Problem könnte geheilt werden, indem die Betroffenen ihre eigene Inkompetenz erkennen und dazulernen, und damit nicht mehr inkompetent wären.[12]

Das Opfer einer Angstneurose durch Radiophobie ist meist das Individuum, der Täter die neurotische Gesellschaft. Viele Studien fanden, dass die meisten Menschen (60-75 %) glauben, dass ein Kontakt mit radioaktiver Strahlung eines Tages Krebs auslösen würde. Diese Empfindung erklärt, warum es für viele Menschen nie zu teuer sein kann, Strahlung zu vermeiden. Die mit der Strahlenkontamination einhergehende Stigmatisierung kann deshalb substanzielle sozioökonomische Folgen haben. Beispielsweise führte der Goiânia-Unfall (1987) dazu, dass Bewohner der Region in anderen Landesteilen nicht mehr als Hotelgäste akzeptiert wurden, und Piloten sich weigerten, mit ihnen an Bord zu fliegen. Der Tourismus in der Region nahm erheblichen Schaden, und die Verkaufspreise von Produkten aus der Region brachen für mindestens einen Monat ein, obwohl bei keinem untersuchten Produkt je eine Kontamination festgestellt wurde.[13] Die Therapie gestaltet sich schwierig: Neben einem Desinteresse von Medien und Politik kommt dazu, dass Strahlung:[4]

  • Weder gesehen, noch gefühlt, gerochen oder geschmeckt werden kann
  • Zerstörerische Macht verleihen kann
  • Eine stochastische Wirkung hat

Durch diese Punkte beherrschen Radioaktivität und Strahlung die Urängste des Menschen. Humor kann helfen, diese Ängste zu überwinden. Hoffnungsträger ist die Serie „Die Simpsons“: Kernkraft und Radioaktivität werden humoristisch dargestellt, und die Transmutationssymbolik in den Simpsons-Comics parodiert.[4]

Zitate

„Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Das ist die Grundannahme des herrschenden Diskurses in der Bundesrepublik. Journalisten, Intellektuelle, Politiker, Pädagogen und Lehrer sehen sich in der besonderen Pflicht, Bewusstsein zu schaffen. Bewusstsein für Umweltzerstörung, Rassismus, soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung und vieles mehr. Im Grunde handelt es sich um einen deutschen Konsens: Die Vorstellung, dass das Sein vom Bewusstsein bestimmt wird, also die Umkehrung des berühmten Diktums von Marx, ist die unausgesprochene Prämisse fast aller öffentlichen Debatten. Daraus ergibt sich die Gleichung „Meinung gleich soziale Wirkung“. Und so ist erklärlich, warum Minderheitenmeinungen in diesem Lande so extrem attackiert werden.
Denn dieser naive gesellschaftstheoretische Idealismus hat drastische Folgen für den Stellenwert der Meinungsfreiheit. Es wird umso intoleranter auf andere Meinungen reagiert, je stärker jemand von der realen Wirkung von Meinungsäußerungen ausgeht. Wenn man daran glaubt, dass allein die Wirksamkeit bestimmter öffentlich geäußerter Meinungen für die Probleme der Gesellschaft verantwortlich ist, dann ist der Schritt zu der Überzeugung, dass man diese Meinungen bekämpfen und unterbinden muss, ein sehr kleiner. Wer wirklich davon ausgeht, dass die Welt nur gerettet werden kann, wenn alle an die Erderwärmung glauben, für den ist jeder Kritiker, der seine Meinung öffentlich kundtut, nicht nur ein intellektueller Gegner, sondern der Feind der ganzen Menschheit. Wer daran glaubt, dass Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen tatsächlich nur dadurch entstehen, dass Menschen über die Gegensätze zwischen diesen Gruppen reden, für den sind solche Äußerungen eine reale Gefahr für den Frieden. Meinungsfreiheit ist aus der Perspektive dieses naiven Idealismus nur ein störendes Hindernis auf dem Weg zur guten Gesellschaft. [...]
Naiver Idealismus und extremer Moralismus sind eng miteinander verknüpft. Wer die Welt nicht von sozialen und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und materiellen Zwängen geprägt, sondern durch die Bildung von Bewusstsein bestimmt sieht, dem wird es weniger darum gehen, die kausalen Zusammenhänge zu erklären, sondern darum, die Konsequenzen moralisch zu be- und verurteilen.
Die öffentlich zur Schau getragene moralische Entrüstung und Verurteilung wurde so zum zentralen Instrument der Gesellschaftspolitik erhoben. Sachliche Auseinandersetzungen werden dadurch immer schwieriger, da alle relevanten Fragen auf eine moralische Ebene gezogen und ein Problem auf die Frage der – apodiktisch gesetzten und selbst nicht mehr hinterfragbaren – Moral reduziert wird. In einem solchen Diskurs sind Tatsachenbehauptungen nicht richtig oder falsch, sondern gut oder böse. Sie können daher auch nicht mit Argumenten begründet oder widerlegt, sondern nur nach der Vereinbarkeit mit der gesellschaftspolitischen Agenda überprüft und bewertet werden. Nicht Wahrheit, sondern Wünschbarkeit wird zum zentralen Kriterium.
Eine Mischung aus naivem Idealismus und extremer Abwehrhaltung gegenüber Andersdenkenden und Abweichlern wird man in dieser Kombination sehr häufig antreffen. Der gesellschaftstheoretische Idealist wird hinter allen negativen Phänomenen immer moralische Schuld wittern, die in falschem Bewusstsein zu verorten ist. Für denjenigen, der zu der Erkenntnis gelangt ist, dass sich das Lohnniveau in einem Marktprozess aus Angebot und Nachfrage ergibt, ist die Lohnhöhe keine moralische, sondern eine ökonomische Frage. Für diejenigen aber, die in der Lohnfestsetzung einen Willensakt sehen, der die Folge eines bestimmten „gesellschaftlichen Bewusstseins“ ist, für den ist das Lohnniveau eine moralische Frage. Der Lohn für Geringqualifizierte ist von diesem Standpunkt aus betrachtet nicht deshalb niedrig, weil ein großes Angebot von Arbeitskräften auf eine begrenzte Nachfrage stößt, sondern weil die Unternehmer sich unmoralisch verhalten. [...]
Viele Meinungsmacher, Journalisten, Moderatoren und Politiker handeln deshalb aus ihrem subjektiven Verständnis heraus verantwortungsbewusst, wenn sie in der Berichterstattung ihren Zuschauern und Lesern bestimmte Fakten vorenthalten und andere Meinungen unter den Tisch fallen lassen. Wenn sie es nicht täten – so glauben sie –, würde die Ordnung aus den Fugen geraten und das Böse schließlich triumphieren. [...] Ohne eine solche Theorie wäre die hysterische Reaktion auf bestimmte Meinungsäußerungen überhaupt nicht nachvollziehbar: Gute Meinungen führen demzufolge zu gutem Verhalten, schlechte Meinungen führen zu schlechtem Verhalten. Darum muss man gute Meinungen in den Medien gebetsmühlenartig wiederholen und schlechte Meinungen außen vor lassen oder vor aller Welt als schlechte Meinungen brandmarken. Dahinter ist das unausgesprochene Ziel erkennbar, dass es möglichst nur noch gute Meinungen geben soll und alle schlechten Meinungen möglichst verbannt gehören. Dies folgt dem Grundsatz: „Gut ist, wer Gutes sagt“ und beruht auf dem naiven Glauben, dass gesellschaftliches Bewusstsein wichtiger ist als technologischer Fortschritt, ökonomische Gesetzmäßigkeiten, internationale Machtkonstellationen und reale Interessenkonflikte.“
– Gérard Bökenkamp, Historiker[14]


„ Political correctness is communist propaganda writ small. In my study of communist societies, I came to the conclusion that the purpose of communist propaganda was not to persuade or convince, nor to inform, but to humiliate; and therefore, the less it corresponded to reality the better. When people are forced to remain silent when they are being told the most obvious lies, or even worse when they are forced to repeat the lies themselves, they lose once and for all their sense of probity. To assent to obvious lies is to co-operate with evil, and in some small way to become evil oneself. One's standing to resist anything is thus eroded, and even destroyed. A society of emasculated liars is easy to control. I think if you examine political correctness, it has the same effect and is intended to.“
– Theodore Dalrymple, Psychologe[15]


„It will then become evident that to attach the appellation “science fiction” to fables that merely represent outgrowths of the ancient dualistic superstition of all primitive men is a flagrant reversal of the meaning of words, similar to the reversals so frequently practiced, for their own ulterior reasons, by the Communists themselves. It is these pseudo-science stories that offer men escape in the pernicious sense: that of an opiate which withdraws them from reality. The doctrine of dualism is so deeply rooted in human traditions, it has been held so long in awe and has flourished in so many forms, it still permeates so much education (especially education of the very young) and of everyday language and practices, that it is to be found among us on every side and in a multitude of manifestations, many of which fail to be recognized as such. [...]
In the genre of fiction inappropriately designated nowadays as „fantasy“, the old-time ghosts, jinn, demons, and even gods have been resuscitated. They stalk about in the open or lurk in shadows, as the case may be; but they practice their ancient sorcery without apology in modern or not-so-modern settings. However, in the genre posing as science fiction these spirits and their workings, although often dealt with, are usually disguised by couching them in pretentious sham-scientific terms and by expositions calculated to deceive the unsophisticated into regarding these phenomena as physically and biologically plausible.[...]
In these ways the reader tends to get the impression that the scientifically conceivable inventions and the disguised spiritism are akin and similary reasonable. This impression is frequently reinforced by editorial argumentation and by allegedly factual articles. The whiping-out of the meaning of science is carried even further by a class of publications that makes it a point to offer stories of all three types interspersed: the frank fary tales, the „scientifically“ camouflaged ones, and the true science fiction, together with all grades and mixtures between them. The same practices are followed by many movie, radio and TV presentations. Bordering all branches of science there is of course a “lunatic fringe” of wishful thinkers to be found defending some bogus cancer cure, mysterious radiation effect, or species of dualism.“
Hermann Joseph Muller, Genetiker[16]

Weblinks

Anhang

  1. Man beachte die Werbung des Radiumpuders mit einer vergoldeten Frau → Stein der Weisen
  2. In Wells Roman The World Set Free ist Gold ein Abfallprodukt der Nuklearindustrie, und aufgrund seiner großen Verfügbarkeit praktisch wertlos. → Reichtum ist bedeutunglos. Während der Großen Depression wurde ernsthaft diskutiert, durch Transmutation Gold zu erzeugen, um die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen (s. Mark Morrisson)

Einzelnachweise

  1. Jack de Ment: RADIOPHOBIA; a new psychological syndrome. West J Surg Obstet Gynecol, Nov 59(11): pp viii-x; passim. (1951)
  2. a b c d e f g h i j k l Spencer R. Weart: Nuclear Fear: A History of Images, Harvard University Press, 1988. ISBN 9780674628359
  3. a b c d e f g h Mark Morrisson: Modern Alchemy: Occultism and the Emergence of Atomic Theory, Oxford (2007) ISBN 0195306961
  4. a b c d e f g h i j k l m n o p q r s t R. Michel: Geschichte der Radioaktivität: von der Euphorie zur Radiophobie, Institut für Radioökologie und Strahlenschutz, Leibniz Universität Hannover. Vorlesungsunterlagen hier und hier abrufbar
  5. Eckart Richter, Thomas Feyerabend: Grundlagen der Strahlentherapie, Springer, 2002. ISBN 3540412654
  6. a b Mircea Eliade: Schmiede und Alchemisten. Mythos und Magie der Machbarkeit, Herder, 1992. ISBN 3-451-04175-8
  7. D.C. G. Le Bon, L'Evolution de la Matiere, Flammarion, pp 57, 1909; zitiert nach Mary Jo Nye, Gustave Le Bon's Black Light, Historical Studies in the Physical Sciences 4, pp 163-195, 1975
  8. Wolfgang Harich: Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der »Club of Rome«. Sechs Interviews mit Freimut Duve und Briefe an ihn.Rowohlt Verlag GmbH, 1975. ISBN 3498028278
  9. Der Spiegel: Thesen gegen supertechnik, 26.12.1977 abgerufen am 4. Dezember 2013
  10. Ilyin, Pavlovsky: Radiological consequences of the Chernobyl accident in the Soviet Union and measures taken to mitigate their impact, IAEA BULLETIN, 4/1987
  11. Der Spiegel: Studying the Fukushima Aftermath: 'People Are Suffering from Radiophobia, 19. August 2011 abgerufen am 4. Dezember 2013
  12. J. KRUGER, D. DUNNING: Unskilled and Unaware of It: How Difficulties in Recognizing One's Own Incompetence Lead to Inflated Self-Assessments, Psychology, 2009, 1, pp 30-46
  13. Paul Slovic: Perception of Risk from Radiation, Radiation Protection Dosimetry, Band 68, Nr. 3/4, pp 165-180 (1996)
  14. eigentümlich frei: Vom Marxismus zum Idealismus: Die Crux der Bewusstseinspolitik, 29. September 2010 abgerufen am 05. Dezember 2013
  15. FrontPage Magazin: Our Culture, What’s Left Of It, 31. August 2005 abgerufen am 05. Dezember 2013
  16. Hermann J. Muller (Author); Elof A. Carlson (Editor): Man's Future Birthright Essays on Science and Humanity, SUNY Press, pp 12-14 (1973) ISBN 0-87395-097-6